Der Berg und ich (1955)
Krystof Zlatnik
D E R B E R G U N D I C H
1955
Ein
Schwarm von Vögeln, hohen Flugs entschwunden.
Verwaiste Wolke, die gemach entwich.
Wir beide haben keinen Überdruss empfunden,
Einander anzusehen, der Berg und ich.
(Li
Po, 750 v. Chr.; Übers. von Günter Eich)
An
klaren Frühlingsabenden sitze ich auf dem Felsvorsprung bei der Hütte und
schaue ihn an (Piz Roseg). Vielleicht spreche ich zu
ihm und er antwortet mir, oder ist es umgekehrt? Ich weiß es nicht genau. Ich
würde hier bis in die Nacht sitzen, aber die Kälte treibt mich ins Bett. Am
Morgen begrüße ich ihn noch vor dem Sonnenaufgang. Wie ist er heute gesinnt?
So
innerlich ausgeglichen wie der chinesische Dichter bin ich leider nicht. Wohl
kann ich lange schauen, doch ich möchte mehr: ihm näher kommen, vielleicht
sogar seinen Gipfel erreichen. Warum? Ich frage nicht danach, ich will einfach.
Früh am
Morgen erreiche ich den Rand des Scerscengletschers, der Sturm fegt mich wieder zurück. In der folgenden Nacht
schiebe ich meine Ski über weite Schneeflächen. Die Sterne leuchten, ganz still
rundum die Gipfel; mein Berg vor mir wird immer größer, bis seine Masse mein
ganzes Blickfeld füllt. War ich wirklich schon einmal dort oben?
Damals
in Juli nächtigten Petr und ich im Geröll der Mittelmoräne des Tschiervagletschers. Wir schliefen so gut, dass uns erst
die Schritte einer Rotte vorbeigehender Bergsteiger weckten. Schluss mit der Einsamkeit,
auf die wir uns gefreut hatten; es wurde eine Kollektivbesteigung, ein
Rummelplatz auf dem Graten. Man beobachtete, wurde beobachtet, man redete, photographierte. Aber der Berg? Der wurde vergessen. Ich
wollte über den unberührten Ostgrat die Porta Roseg und weiter zum Piz Bernina
gehen. Ich stieg sogar in die Güßfeldscharte ab, aber
Petr hatte kein Vertrauen zu dieser ungewisser Unternehmung. Auf dem
ausgetrampelten Pfad kehrten wir mit unserer ganzen Biwakausrüstung
wieder nach Pontresina zurück.
Heute
bin ich in der Nacht allein, unabhängig und frei, niemand stört meine
Selbstgespräche mit dem Berg. Eine ganz dünne, lange Wolke ist am Himmel.
Zu Fuß
spure ich mühsam durch die Schneehalden dem Marinellicouloir
zu. Es geht sehr langsam, doch ich habe keine Eile. Ich bin bei meinem Berg,
das ist genug. An den ersten Felsen wird der Schnee so tief, dass ich lieber
auf kleinen verschneiten Griffen und Tritten balanciere. Wieder Schnee, wieder
Fels, diesmal vereist. Ich schlage kleine Stufen.
Langsam
wird es hell. Ich bewundere die Farben der verschneiten Felspfeiler. Hier türmt
sich alles in die Höhe. Und oben? Die dünne Wolke hat sich über den ganzen
Himmel ausgebreitet, sie ist jetzt gelb und violett, schwarz und grau. Es fängt
an zu schneien und zu stürmen. Am nächsten Schneehang schnallte ich die
Steigeisen an. Über mir wehen Staublawinen über steile Felsabsätze. Bin ich
hier überhaupt richtig? Wo bin ich bei der Dunkelheit eingestiegen?
Der Piz Roseg zeigt sein mächtiges und drohendes Gesicht. Und ich
sehe demütig ein, dass ich nur ein kleiner, schwacher Mensch bin. Durch die
Schneerinne steige ich ab. Die letzte Lawine zischt vorbei. Ich gleite auf
Skiern wieder der Hütte zu. Es ist Tag geworden. Die Wolken sind verschwunden.
Der Berg lächelt mir zu. Ich war auf unrichtigem Weg. Bin ich geschlagen
worden? Nein, der Berg hat mir nur gezeigt, was er ist und was ich bin. Dafür
bin ich ihm dankbar, ich fühle mich aber so klein und verlassen. In der kalten
Hütte friere ich, gern fahre ich gleich ins Tal.
Hier
sind die Wiesen grün geworden, überall blühen die Frühlingsblumen. Fröhliche
Italiener laden mich zum Vino Rosso ein. Bis zum nächsten Morgen erwarte ich
meinen Freund Bernhard.
Am
Nachmittag laufen meine Ski wieder hinauf. Die Abendsonne bestrahlt den Berg,
aus dem Schornstein der Hütte steigt eine Rauchsäule. Was für Gesellen werden
dort oben sein? Es sind zwei junge Menschen, genauso begeistert wie ich. Was
erzählen sie? Gerade sind sie von dem Piz Roseg
gekommen. Es führe von dem Sellapass ein leichter
ausgetretener Weg hinauf. Heute sei wunderbares Wetter gewesen. Vielleicht wird
es morgen auch so sein.
In der
Nacht überquere ich wieder den Gletscher und kurz nach dem Sonnenaufgang stehe
ich in der Porta Roseg. Ich möchte zu dem Tschiervagletscher absteigen und entweder durch die
Nordwand auf den Roseg oder über den Biancograt auf den Bernina gehen.
Welcher Ehrgeiz! Aber das wird sich schon geben. Die Eisflanke beim Abstieg
wird immer steiler, von unten weht ein eisiger Wind;
ich steige in die Sonne an der Scharte zurück. Vor mir habe ich den ersten
Felsaufschwung des Ostgrates des Piz Roseg.
Ich
quere ein steiles Firnband, schlage Stufen in einen Eiskamin, greife in rauen Granit und bald bin ich oberhalb
des gefürchteten Steilstücks. Von dem Grat blicke ich in die Eisnordwand. Ich
spähe nach der Möglichkeit eines Durchstiegs. Vielleicht später einmal! Ich klettere
über Felsen – es ist gut, dass wir damals im Sommer diesen Abstieg nicht
versuchten. Mit unserem Gepäck wäre dies eine Plage
gewesen. Petr hatte Recht, dass er zurück wollte.
Jetzt
stehen zwei verschneite Türme vor mir, ich versuche vergeblich sie zu
überklettern. Ich muss zurück, tief in die heiße Südwand und durch weichen
Schnee wieder zu dem Firngrat oberhalb der Türme.
Hier ist es schön. Über mir die Felsen des kleinen Roseg,
ich nenne ihn Sohn. Er ist der niedrigste der Familie, aber dafür der wildeste,
ein richtiger Lausbub! Seine dem Vater zugewandte Seite ist eine steile
Eisflanke. Mir ist nicht wohl zumute, als ich die Vorderzacken möglichst tief
in die glasharte Wand einstoße. Es geht sehr langsam hinab, aber endlich finden
meine Fußspitzen besseren Halt im Firn und bald stehe ich in der Güßfeldscharte. Aus der Nordwand sticht wieder der eisige
Wind. Der berühmte Führer Klucker soll sich hier einmal von einem Polentalöffel in die Flanke abgeseilt haben. Das möchte ich
nicht versuchen. Vorsichtig quere ich unter der verächteten
Gratschneide zum Hauptgipfel. Unter mir ist die gewaltige Marinellirinne.
Ja, an jenem Morgen hätte ich nur noch ein steiles Stück durchsteigen müssen,
dann hätte ich den oberen, festen Teil des Schneecouloirs erreicht.
Die
Gipfelfelsen des Vaters Roseg sind diesmal ärger
vereist als im Sommer. Damals konnte ich durch weichen Schnee zu der Scharte
laufen. Jetzt stoße ich meine Zacken in blankes Eis und halte mich an
herausragenden Steinen. Der Wind bläst durch die Kleider, er dringt gleichsam
bis in die Knochen. Auf dem Gipfel trete ich sofort in die Spuren vieler
Besucher und laufe hinab. Erst bei dem Westgipfel, bei der sanften und gütigen
Frau Roseg lege ich meinen Rucksack ab, esse meine
zwei Semmeln und schaue zurück. Weit hinten am Grat kann ich noch winzige
Stufen erkennen.
Heute
bin ich wieder in mir noch unbekanntes Gebiet vorgedrungen. Vielleicht habe ich
auch einige Schwierigkeiten überwunden. Ich musste den Wind ertragen, meine
Zehen unter den Steigeisengurten waren starr. Soll ich stolz sein? Ich weiß
noch genau, wie klein und schwach ich unter der Marinellirinne
war.
Heute
bin ich nicht stärker, nur hatte der Berg diesmal Nachsicht mit mir, ich durfte
seinen mächtigen Kamm überschreiten und er ließ mich wieder gehen. Meine Spur
wird verschwinden, doch er wird hier weiter stehen wie seit Jahrtausenden. Wenn
ich wieder bei der Hütte sitze, sehen wir einander an. Ich fühle noch besser,
wie ich in meiner Nichtigkeit der Natur ausgeliefert und in ihr gleichsam doch
geborgen bin. Ich sehe das Unwesentliche vielen Strebens und manchen Ehrgeizes
noch klarer. Dies ist das Wertvollste, was ich von der Begegnung mit dem Berg
nach Hause bringe.